02 September 2006

BLOCK BEUYS


Im Werkverzeichnis von Richard Rijnvos finden sich mehrfach Arbeiten, die die Grenze zu anderen Künsten überschreiten; unter anderem hat er an dem Film Atlantique und an der Dia-Tonband-Produktion for Samuel Beckett mit dem Künstler Frank Zweers mitgewirkt. Er hat auch eine eigene Fassung von Samuel Becketts Hörspiel Rough for radio hergestellt, in der er die Stimme von John Cage verwendete. Es liegt ihm also nicht fern, das zu schreiben, was man im deutschen Sprachgebiet seit Kurt Weill mit dem Begriff »Angewandte Musik«; bezeichnet, also Musik, deren ästhetische und stilistische Vorgaben sich an einem anderen Medium, einer anderen Kunstform als der Musik selbst orientieren

Im Fall der Komposition BLOCK BEUYS, entstanden 1995-2000 und aufgeführt am 7. März 2000, handelt es sich allerdings nicht um angewandte, sondern um autonome Musik, also Musik, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Natürlich ist die Komposition von Rijnvos durch die Installation von Joseph Beuys inspiriert worden und reagiert auch sehr präzise auf diese, aber gerade weil der Titel so offensichtlich die visuelle Vorlage der Musik präsentiert, muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Richard Rijnvos’ Komposition Block Beuys nicht gleichsam um eine 1:1-Umsetzung des Werks von Joseph Beuys handelt. Rijnvos’ Musik ist nicht deskriptiv; sie antwortet vielmehr auf die von Beuys mit Objekten bestückten Räume, indem sie ihrerseits virtuelle Räume konstruiert; und dies tut sie mittels einer musikgeschichtlich ziemlich präzis lokalisierbaren Anknüpfung an Vorbilder, unter anderem an die Musik von John Cage, wie gleich noch weiter ausgeführt werden soll.

Wenn man sagt, Musik sei eine Zeitkunst, dann ist diese Aussage seit über dreißig Jahren nur mehr bedingt richtig. Natürlich kann sich Musik nur innerhalb der Zeit abspielen und wahrgenommen werden. Das bedeutet: in der Musik gibt es Prioritätsverhältnisse. Wenn ich Prioritäten setze, dann möchte ich, dass eine bestimmte Sache zuerst geschieht und andere erst später; und ich möchte das, weil nur die eine Sache, welche die erste werden soll, am wichtigsten erscheint. In der Musik nennt man eine solche Sache häufig ein ›Thema‹, also ein Gesetztes, eine Setzung. Nach dem Thema gibt es dann vielleicht eine ›Ableitung‹; das zuerst kommende Thema und das als zweites kommende werden auch ›Hauptsatz‹ und ›Nebensatz‹ genannt; die musikalische Terminologie ist voll von solchen Spiegelungen von Prioritätsverhältnissen.

Ein Komponist, der von Anfang an auf andere Weise an die Musik heranging und auf den sich Rijnvos in seiner ArbeitBlock Beuys mehrfach bezieht, war John Cage. Nachdem bereits stellenweise bei Claude Debussy und vor allem bei Erik Satie, auf den Cage sich nachdrücklich berief, eine andere Konzeption von musikalischer Zeit aufgeschienen war, war Cage dejernige Komponist, der hartnäckig und mit aller Konsequenz das Ziel verfolgte, eine Musik zu schreiben, die ohne Prioritätsverhältnisse auskommen würde, eine Musik, in der das aufgelöst wäre, was man in der Musikwissenschaft kompositorischen Zusammenhang nennt. Er erreichte schließlich auch sein Ziel in den Jahren um 1950, indem er – sehr verkürzt gesprochen - alles, was an Sprachähnlichkeit in der Musik liegt, abschaffte, d. h. vor allem jegliche Figurbildung und jegliche Formen von Setzung, Ableitung oder Schlußbildung, von denen eben die Rede war. Deshalb hat man einerseits bei Cages Musik so oft das Gefühl von Zeitlosigkeit, andererseits ist es möglich, diese Stücke wie einen musikalischen Raum zu hören, in dem man sich nach Belieben von einem Gegenstand zum anderen bewegen kann. Letzteres gilt natürlich besonders, wenn man diejenigen Stücke gut kennt, in denen die Musiker die zeitliche Anordnung des musikalischen Materials von Aufführung zu Aufführung selbst verändern können. Man erkennt dann ein Stück wieder, obwohl man nicht seinen zeitlichen Ablauf kennt.

Eines der kompositorischen Mittel, das John Cage häufig gebrauchte und an das Richard Rijnvos inBlock Beuys anknüpft, ist das Mittel der Zeitklammer. Bevor aber die Funktionsweise solcher Zeitklammern erläutert werden soll, werfen wir erst einen Blick auf die Gesamtstruktur von Rijnvos’ Block Beuys:

Die Komposition umfasst vier Teile, die auch einzeln aufgefuehrt werden koennen. Diese Teile tragen die Titel Block Beuys - Raum 1, Block Beuys - Raum 2, Block Beuys - Raum 3 und Block Beuys - Raum 4 bis 7. Damit haben wir eine erste Analogie zur Darmstaedter Sammlung von Beuys, die aus sieben Räumen besteht, wobei die Räume 4 bis 7 je eine offene Schmalseite haben, so daß sie durch einen Gang miteinander verbunden sind. Für alle Teile der Komposition ist die Gleichzeitigkeit mehrerer musikalischer Ebenen oder Schichten charakteristisch. Eine dieser Schichten hebt sich immer dadurch von den anderen ab, dass sie permanent als ein Kontinuum gespielt wird - auch wenn sie nicht immer permanent zu hören ist -, während die anderen Schichten in sich bewegter und deutlich in verschiedene Abschnitte unterteilt sind. Das Kontinuum, wie es der Komponist selbst übrigens auch bezeichnet, wird in jedem der vier Teile klanglich anders realisiert: im ersten Teil hören wir ein Tonband mit Klavierklängen, bei denen die Saiten des Klaviers mit Schnüren angestrichen werden; im zweiten Teil wird ein Positiv benutzt - das ist eine Orgel mit nur einem Manual und ohne Pedal -, auf dessen Tasten kleine Gewichte gelegt werden. In Block Beuys - Raum 3 ist ein Instrument namens Aquaphon fuer das Kontinuum zuständig; dabei werden mit einem Bogen angestrichene Metallstäbe in Wasser getaucht. Im letzten Teil, Block Beuys - Raum 4 bis 7 schließlich, spielen zwei Schlagzeuger stets die gleiche rhythmische Sequenz, aber in ständig wechselnder Klangfarbe.

Da das Kontinuum in Raum 1 durch ein Tonband repräsentiert wird, das von Anfang bis Ende ohne Unterbrechung durchläuft, sind die zeitlichen Verhältnisse in dieser musikalischen Schicht unveränderbar. In den live gespielten Teilen jedoch werden die eben erwähnten Zeitklammern verwendet. Die Spieler müssen innerhalb eines bestimmten Zeitraums mit einem bestimmten Abschnitt beginnen und diesen auch innerhalb eines bestimmten zweiten Zeitraums beenden. Technische Voraussetzung für diese Art kompositorischer Zeitgestaltung ist die Verwendung von Stoppuhren, die jeder Spieler bei sich hat.

So schalten die Spieler am Beginn von Raum 1 mit dem dritten Ton des Tonbands ihre Stoppuhren ein, und die Streicher können zwischen 00'05" und 01'05" mit ihrem Abschnitt beginnen; die Pianisten und Schlagzeuger sind noch etwas freier in ihrer Wahl ›ihres‹ Zeitraums. Das kompositorische Mittel der Zeitklammer ist also dazu geeignet, innerhalb einer Musik, in der die zeitlichen Beziehungen (die Prioritätsverhältnisse) zwar nicht abgeschafft, aber doch aufgeweicht sind, eine Kontrollinstanz für die Dichte eines Abschnitts und natürlich auch für seine Harmonik zu liefern.

Rijnvos entschied sich für ein Komponieren mit mehreren gleichzeitig ablaufenden musikalischen Schichten, um den Gegensatz zwischen den vorgegebenen Räumen der Installation mit ihren Decken, Wänden und Fußböden und den von Beuys in diese Räume platzierten beweglichen Objekten musikalisch brauchbar zu machen. Das Kontinuum repräsentiert dabei die gebaute Struktur der Räume. Und darin liegt eine zweite Analogie zwischen Rijnvos’ und Beuys’ Werken; denn entsprechend der Tatsache, dass die gebaute Struktur von Raeumen desto weniger sichtbar wird, je mehr man hineinstellt, kann man das Kontinuum in Rijnvos’ Block Beuys halt mehr oder weniger gut hören, weil es von anderen Ereignissen überlagert wird.

Der Gegensatz zwischen Kontinuum und anderen Schichten bei Rijnvos spiegelt übrigens auch die Verhältnisse zwischen umbautem Raum und Anzahl der in diesem Raum versammelten Objekte bei Beuys: Zum Beispiel präsentiert der erste Raum, der mit 125 qm der bei weitem größte ist, nur 5 Objekte, der zweite hingegen, bei nur 96 qm, 33 Objekte. Diese Dichteproportionen spiegeln sich in Rijnvos’ Komposition darin, dass der erste Teil viel großzügiger mit der musikalischen Zeit verfährt und ruhiger ist als der zweite, in dem fast ohne Pause irgendetwas geschieht und die Ereignisse sich schnell abwechseln. In Raum 4 bis 7 wird auf eine besonders strikte Art auf die Beuysschen Objekte reagiert, indem nämlich der Komponist seine Abschnitte als ›Vitrinen‹ bezeichnet - analog den unter Glas ausgestellten Objekten in Beuys’ Räumen 4 bis 7 - und dem Kontinuum der beiden Schlagzeuger und einer weiteren Schicht eine dritte hinzufügt, die aus sehr kurzen Tonhöhen besteht. Die Anzahl der von Beuys innerhalb einer - realen - Vitrine zusammengestellten Objekte entspricht der Anzahl der von Rijnvos komponierten kurzen musikalischen Einheiten. Diese Splitter sind in der Lautstärke deutlich gegenüber den anderen Schichten herausgehoben.

Damit sind wir schon sehr nahe an der letzten und fundamentalen Analogie, die zwischen Rijnvos und Beuys besteht: Richard Rijnvos setzte bei den Grunderfahrungen von Bildender Kunst und Musik an, der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit. Er hat die Grundflächen der sieben Räume von Beuys’ Installation gemessen und die Proportionsreihe, die sich aus den Quadratmeterangaben ergibt, umgedeutet in eine Proportionsreihe von Dauern, also von Minuten und Sekunden. Diese Proportionsreihe bestimmte von Beginn der kompositorischen Arbeit an die Länge der vier Teile des Werkes. So ist zum Beispiel das Verhältnis der Grundflächen des ersten und zweiten Raums, also 125 geteilt durch 96, bis auf ein Hundertstel genau auch das Verhältnis der Dauern von Rijnvos’ Raum 1 und Raum 2: 24'20'' zu 18'30''. Nur da Musik, wie Rijnvos sie schreibt, die zeitliche Gerichtetheit der alten Musiksprache nicht besitzt und durch eine Quasi-Räumlichkeit ersetzt hat, ist sie in der Lage, sogar in ihrer Grundstruktur sich nach einem anderen, bereits existierenden Kunstwerk zu richten, ohne ihren Autonomieanspruch aufzugeben.

Autor: Martin Erdmann. In: Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Reihe XX. Jahrhundert 1