27 Mai 2007

INTUITIVE SÄULEN=SCHEIN=HEILIGKEIT





27 April 2007

JBJC




DENKEN MIT BEUYS


Ästhetische Erziehung, die notwendig stets anders werdenden Primärimpulse und das kulturelle Kapital (Denken mit Beuys)

Von Endre Kiss, Budapest


Die letzten dreißig Jahre erhoben zwei umfassende Denkrichtungen in die Stellung der effektiven Gestaltung von Geschichte und Gesellschaft. Uns scheint, dass diese Verschiebung der philosophischen Palette neue, vielleicht sogar überdurchschnittlich produktive Möglichkeiten schafft, Joseph Beuys’ Lebenswerk in dieser neuen Perspektive uns neu zu vergegenwärtigen.

Die eine bestimmend gewordene umfassende philosophische Richtung ist jener Neoliberalismus, der als Erneuerung und Reformulierung des Neopositivismus des Wiener Kreises und der dreißiger Jahre, sowie als neuer und umfassender Typus des neopositivistischen Neoliberalismus (oder des neoliberalen Neopositivismus) gelten kann, der vor allem von jenen formuliert worden ist, die am Marxismus und den den damaligen historischen Formen des realen Sozialismus enttäuscht waren und bei denen diese Desillusionierung auch noch das Ausmaß der Angst und der Empörung wegen Hitlers Machtübernahme erreichte, stellenweise sogar noch überragte.

Es war dieser Typ des spezifisch antikommunistischen Neoliberalismus, der in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in der Politik, wie auch in der Wirtschaft und Wirtschaftstheorie, nicht weniger aber auch in der philosophischen Grundlagenforschung in entscheidende Positionen kommen konnte.

Die andere, anfangs angesprochene philosophische Richtung ist der Postmodernismus. Auch der Postmodernismus erzielte seine bestimmende Position nach und wegen der kritischen Schwächung des bis dahin vorherrschenden Neomarxismus (im Falle der Postmoderne spielte auch der Strukturalismus eine ähnlich dezisive Rolle, wie aber auch im Falle des Neoliberalismus/Neopositivismus noch weitere philosophische Richtungen eine Rolle gespielt haben).

Trotz der Tatsache, dass die genannten Jahrzehnte im wesentlichen unter der gemeinsamen Hegemonie dieser beiden umfassenden Strömungen gestanden haben, kamen diese beiden Richtungen nur im allerseltensten Fall in direkte Berührung zueinander.

Diese Frage interessiert uns an dieser Stelle aus dem Grunde, weil sie trotz ihrer nicht nur deutlichen, sondern auch struktur- und diskursbildenden Gegensätzlichkeit in entscheidenden Zusammenhängen auch in einer Relation der Symmetrie miteinander gestanden haben.

Diese Symmetrie-Relation ist es, mit welcher wir die größte Chance haben dürften, Joseph Beuys’ Denken und künstlerisches Werk nunmehr vor dem Horizont unseres Zeitalters auf die Waage zu stellen.

Als symmetrisch erweisen sich die beiden philosophischen Komplexe zunächst darin, dass beide sich wie organisch auf die beiden umfassenden Richtungen der europäischen Philosophie und Politik aufbauen.

Auch ohne ausführliche Dokumentation lässt sich einsehen, dass der Neoliberalismus/Neopositivismus seit den siebziger Jahren zur Denkweise der europäischen konservativen Richtungen geworden ist. Auf der anderen Seite dürfte der postneomarxistische Charakter der postmodernistischen Richtung zweifellos nicht nur vor dem oberflächlichen Zuschauer geheim bleiben, auch die einzelnen philosophischen Akteure haben es erstaunlich lange nicht artikuliert.

Dieses Verständnis will nichts über die tatsächliche Wirkungsgeschichte oder über die eventuellen Ähnlichkeiten oder Entsprechungen aussagen. Es will in keinem Fall als politische Etikettierung auftreten.

Dieser als erster angeführte Zug der Symmetrie ist nur eine faktische Festlegung von morphologischem Charakter, die vor allem dazu dient, Richtungen inhaltlich zu beschreiben und sachlich zu bestimmen.

Dieselben Prozesse hätten im Prinzip auch Joseph Beuys’ Lebenswerk in dieser oder jener Richtung integrieren können. Sein Werk lässt sich mit Hilfe dieser Dualität erfolgreich erschließen.

Erstens ist es historisch notwendig, Denn Beuys’ Wirken fällt unter anderen gerade in jene sechziger und siebziger Jahre, in denen die auseinander herauswachsende komplexe Entfaltung des Neopositivismus/Neoliberalismus und der Postmoderne vor sich ging. In diesem intellektuellen Raum (man dürfte mit vollem Recht sagen: »Zeit-Raum«) lassen sich zahlreiche relevante, wenn nicht eben entscheidende Charakterzüge von Joseph Beuys mit der Chance auf Erfolg beschreiben.

Beuys gehörte ohne jeglichen Zweifel derjenigen intellektuellen und gesinnungsmässigen Gruppierung an, die man zusammenfassend als ›Die Neue Linke‹ situieren kann. Sein wichtigster spezifischer Zug war dabei eben, dass er das Essentielle dieser Attitüde auf eine Weise verkörperte, dass er dabei mit der Ideologie (sowohl im beschreibenden wie auch im wertbeladenen Sinne) derselben Bewegung gar wenig zu tun gehabt hätte.

Mithilfe der Umgangssprache ließe sich dieser Tatbestand so ausdrücken, dass er ein nicht-konventioneller Vertreter der Neuen Linke war. Welche (und wie viele) ideologische Vorschriften diese an sich zweifellos sehr kritische Richtung von ihren Mitstreitern verlangt hatte, können wir an dieser Stelle nicht ausmachen.

Beuys ließ sich jedenfalls von keiner dieser Anforderungen ansprechen. Um einen der wichtigsten Begriffe unseres Versuchs vorwegzunehmen, verkörperte Joseph Beuys eine an der am Antiideologismus grenzende Haltung, deren integrative Idee die von uns von Siegfried Kracauer übernommene Vorstellung der menschlichen Primärimpulse war.

Zur Neuen Linke im breitesten Sinne des Wortes gehörte Joseph Beuys in dem Maße und in dem Sinne, in denen diese Richtung die menschlichen Primärimpulse in einem konkreten historischen und einem ebenso konkreten zivilisatorischen Zeitalter neu formulieren wollte.

Zur Neuen Linke gehörte Beuys in seinem steten Drang zur Reform und Reformierung; nicht zur Neuen Linke gehörte er (selbstverständlich) durch sein Denken über Kunst, sowie durch seine ständige Thematisierung der Religion und des Jesus-Bezugs.

Die historisch stets anders werdenden und doch so erstaunlich gleich bleibenden emanzipierten menschlichen Primärimpulse lassen aber schon zur zweiten integrierenden Eigenschaft im Werk und Denken von Joseph Beuys hinführen, und zwar zur klaren Thematisierung der ästhetischen Erziehung des Menschen.

Joseph Beuys’ ästhetische Erziehung hat klare Bezüge zu Friedrich Schillers ursprünglicher Konzeption (davon zeugt nicht nur ein von ihm motivierte gemeinsame Photoaufnahme mit Andy Warhol, dieser Bezug geht aber auch tiefer, und zwar in die später nicht sehr oft thematisierte Kultur der eigenen Jugend).

An dieser Stelle sei aber schon festgestellt, dass wir die essentielle Dimension des spezifischen und unverwechselbaren Denkens und künstlerischen Werkes von Joseph Beuys gerade in dieser tiefen Verschmelzung der beiden in den Mittelpunkt gestellten Konzepte erblicken.

Es geht um die ästhetische Erziehung als Inbegriff der menschlichen Primärimpulse und die menschlichen Primärimpulse als Motive und Ergebnisse der ästhetischen Erziehung. Forschungen (unter ihnen auch die unseren) erweisen, dass ein Großteil der spezifisch postmodernen Denkschemata aus dem philosophischen Neomarxismus entstand.

Dies hieß aber nie, wie erwähnt, dass wir diesen historisch-philologischen Befund für eine politische Etikettierung nutzen wollten oder dürften. In diesem Sinne erscheint bei Joseph Beuys die nicht kalkulierbare Erscheinung: Seine Nähe zur Neuen Linke führte bei ihm in keinem Sinne zu Phänomenen, die man später als »postmodernistisch« etikettierte. In diesem Zusammenhang hörte die Moderne für Beuys nie auf. Anstatt des in der Postmoderne in zahlreichen Spielarten realisierten radikalen Differenzdenken, werden bei ihm die Wege der Emanzipation beschritten.

Kein Wunder, dass die ästhetische Erziehung (»Jedermann ist ein Künstler«), die Thematisierung der menschlichen Primärimpulse, sowie die des sozialen Kapitals alle auch als Neuformulierung der Emanzipation gelten können. Diese wahre Alternative zum radikalen und konstituiven Differenzdenken der Postmoderne ist nicht neoliberal, während sie in ihrer emanzipativen Ausrichtung alles andere als »antiliberal« wird.

Der als idealtypisch anzusehende Neopositivismus-Neoliberalismus lässt sich vor allem mit den Bestimmungen der Begriffsbildung und dadurch der Wissenschaftslogik physikalistischer Art am adäquatesten charakterisieren. Auf eine nur scheinbar erstaunliche Weise ließe sich auch die Postmoderne im wesentlichen auch durch ihre Regelung der Begriffsbildung und dadurch der Gegenstandskonstitution am adäquatesten beschreiben, diese Modifizierung erscheint allerdings in zwei Idealtypen (die mit den Namen Derrida und Foucault angedeutet werden können).

Obwohl diese beiden Reformen der Begriffsbildung (und dadurch auch der Gegenstandskonstitution) einander nicht im mindesten ähnlich sind, ersteht doch eine Symmetrierelation durch die Tatsache der beiderseitigen Begriffsreform.

Symmetrisch sind die beiden umfassenden Richtungen allerdings auch darin, dass sie jegliche andere Art der Begriffsbildung mit dem schwierigsten und konsequenzenreichsten ideologischen und wissenschaftlichen Verdacht versehen.

Die allseitige Delegitimierung jeglicher anders konzipierten Begriffsbildung führt dann konsequenterweise zur Verunmöglichung auch jeglicher Sinngebung, welche auf die andersartigen Begriffskonstitutionen aufgebaut worden wären.

Die Symmetrie der Reformen der Begriffsbildung wird von der Absicht motiviert, dass auf dem Wege der Neuregelung der Begriffskonstitution ein Versuch gemacht wird, den gesamten Denkprozess neu zu regeln.

Joseph Beuys’ Werk und Denken unterscheidet sich von beiden Richtungen darin, dass sich ihre Fundamente (ästhetische Erziehung, menschliche Primärimpulse, kulturelles-soziales Kapital) solchen Neuformulierungen der philosophischen Begriffsbildung geradezu entziehen.

Dies bedeutet nicht, dass sie überhaupt nicht von begrifflicher Natur wären. Sie bedeutet eher, dass sie solche primären Relationen in der Beziehung des Menschen zur Gesellschaft und zur Geschichte thematisieren, die auf ihre Weise immun gegenüber Modifizierungen der philosophischen Begriffsbildung sind, deren klar einsichtiges Ziel die Aufrichtung einer philosophischen Hegemonie ist.

Dass die Begriffsbildung (vor allem in ihren Konsequenzen auf die Kognition der Gegenstandskonstitution) für Beuys ebenfalls von der größten Wichtigkeit war, ist gewiß. Er äußerte auch oftmals seine Skepsis gegenüber vorgeprägten Begriffskorsetten, deren Macht (in jedem Sinne des Wortes) er nicht nur einfach wahrgenommen, sondern gegen die er – als einer der wenigen, die es überhaupt thematisierten – auch tatkräftig opponiert hatte.

Seine Intentionen sind aber jedoch direkt von der entgegengesetzten Richtung. Er betrachtet den ganzen Prozeß jeder möglichen Reform der Begriffsbildung (die Anfänge des Neupositivismus/Neuliberalismus wie auch des Postmodernismus hat er ja noch erlebt) nicht aus der Perspektive der Schule (die je »vorschreiben« will), sondern aus der Perspektive des sich artikulierenden Einzelnen, während die Richtung und die Inhalte dieser Selbstverwirklichung für ihn nicht nur nicht bestimmt werden können, sondern auch nicht bestimmt werden dürfen.

Was in ihnen von Relevanz ist, ist allein die Fähigkeit, ob die kreative und emanzipative Realisierung der menschlichen Primärimpulse, die Praxis der ästhetischen Erziehung und die Akkumulation des sozialen Kapitals (auch in der Form der Kunst als Kapital) dabei möglich sind oder nicht.

Es ist geradezu paradigmatisch, dass diese durchaus markante Intentionalität es ist, die aus Beuys praktisch in jeder Periode und in jedem Zusammenhang seiner Tätigkeit wie auf einen Schlag einen Sozialreformer macht. Die Gesellschaft wird ihm an dem Punkt relevant, an dem die Entfaltung menschlicher Primärimpulse in Frage kommt.

Es ist alles andere als nebensächlich, dass diese Forderung bei ihm zutiefst »demokratisch« ist, sie wird im Namen von jedem Einzelnen gestellt, sie ist nicht einer Minorität von auserlesenen Werteträgern vorbehalten. Diese »anthropologisch« ausgerichtete Auffassung über Demokratie (und wie es früher thematisch war: Liberalismus) ist von den entscheidenden Ansätzen von Beuys (ästhetische Erziehung, Primärimpulse, soziales Kapital) in keiner Hinsicht zu trennen.

Die sozialreformerischen Aktivitäten von Joseph Beuys auf der Grundlage der für jeden sicherzustellenden Entfaltung der menschlichen Primärimpulse, vor allem der Kreativität und der Authentizität, markieren einen scharfen Unterschied zu den nunmehr ebenfalls sozialen Konsequenzen der neoliberal/neopositivistischen und der postmodernen Begriffsbildung und philosophischen Gegenstandskonstitution.

Denn diese Reformierung(en) der Begriffsbildung/Gegenstandskonstitution kann zu einer tiefgehenden Desorientierung der sozialen Praxis auch in dem Fall kommen, wenn keine diesbezüglichen Absichten vorliegen. Die spezifisch postmoderne Ausdehnung der Begriffsbildung und Gegenstandskonstitution führt unter anderen zu einer umfassenden Kontingenz, die ab ovo jegliche Allgemeingültigkeit ausschließt, mit Beuys zu reden, etwa auch die der Konzepte der ästhetischen Erziehung oder der menschlichen Primärimpulse.

Die spezifisch neopositivistisch/neoliberale Begriffsbildung und Gegenstandskonstitution repräsentiert – und darüber sprachen wir schon in dieser Arbeit – ebenfalls eine Normativität, die für andere Konzepte einen unmißverständlichen Ausschließungscharakter hatten.

Diese Symmetrie führt wieder in einer Richtung, die wieder gemeinsam zwischen diesen beiden Strömungen und zu Joseph Beuys diametral entgegengesetzt ist.

Diesen beiden umfassenden Richtungen ist es also gemeinsam, dass ohne eine »richtige« philosophische Attitüde eine praktische Durchführung der spezifisch normierten Begriffsbildung überhaupt nicht möglich ist. Mit anderen Worten heißt es so viel, dass diese spezifische Begriffsbildung ohne eine vorangehende Missionierung überhaupt nicht möglich ist, was wieder mit anderen Worten so viel heißt, dass es praktisch keine naive postmoderne (und neoliberale) Einstellung gibt und jemals geben kann.

Zunächst wird aber die richtige Attitüde vorgeschrieben, aufgrund derer die richtigen Denkbewegungen erst in Bewegung zu bringen wären.

Bei Beuys ist es charakteristischerweise schier unvorstellbar. Die grundsätzlichen Bestimmungen der »richtigen« Attüde rühren bei ihm von umfassenden emanzipativen Wertsetzungen und sind nicht von methodologischen Denkvorschriften abhängig. Die emanzipativen Werte lassen sich weder (neoliberal) vorschreiben, noch (postmodernistisch) in einer uferlosen Kontingenz aufgehoben werden.

Joseph Beuys exzelliert in diesem Zusammenhang sogar auch noch darin, dass seine emanzipativen Konzepte die Realisierung dieser Werte voll und ganz dem Individuum überlassen. Seine Regelung ist auch dann noch eindeutig, wenn sie einzig durch die Freiheit des Einzelnen realisiert werden kann. Er stellt somit eine fleischgewordene Alternative sowohl zur (neoliberalen) Normierung, wie auch zur (postmodernen) Kontingenz von Begriffsbildung, Gegenstandskonstitution und menschlicher Praxis.

Joseph Beuys geht über die ästhetische Moderne hinaus, ohne die politisch-emanzipative Moderne zu transzendieren. Die unerwarteten Symmetrierelationen zwischen Neoliberalismus/Neopositivismus und Postmoderne schaffen deshalb eine Situation, in der wir heute mit Joseph Beuys durchaus denken können.

Dieses Denken ist auf der einen Seite alles andere als leicht, schon aus dem Grunde, weil beide umfassenden Strömungen es geradezu vorschreiben, wie das »richtige« Denken ausschauen muß.

Auf der anderen Seite ist dieses Denken aber wirklich nicht schwierig. Es ist es aus dem Grunde nicht, weil man in jeder Konfrontation mit der aktuellen Wirklichkeitsproblematik die drei wichtigsten Komponenten von Beuys’ Denken und Werk wiederfindet: die problematische Zukunft menschlicher Primärimpulse, die problematische Zukunft einer in heutigem Sinne verstandenen ästhetischen Erziehung (»Jedermann ist Künstler«) und die problematische Zukunft des sozialen Kapitals (»Kunst als Kapital« in jeder möglichen Lesart dieser Aussage).



02 September 2006

DSCHUNGEL


Joseph Beuys, der zwei Fasane gefangen hat, einen aus Silber, einen aus Gold, erklärt beiden Joyces Finnigans Wake, obwohl Joyce natürlich selber da ist und sie leben. Er fängt mit seinem Kiefer an, spricht aber nicht, sondern bewegt ihn nur seitwärts, die Vögel schauen aufmerksam zu, dann legt er einen kleinen irischen Volkstanz hin, die Fasanen antworten mit einem so erratischen Quickstep, daß die Gäste in Schrecken geraten. Beuys zerreißt seine Weste in Fetzen, das macht die Fasane so glücklich, daß sie nicht mehr an sich halten können. Sie springen auf seine Schultern und fliegen dann in Richtung des Mondes, zwei Federn zurücklassend. Gerade bevor sie verschwin- den, denkt Beuys »Dschungel«, indem er seine Stirn mit den beiden Federn berührt. Das hat eine magische Wirkung. Die Fasane erscheinen wieder, so, als seien sie nie fortgeflogen. Im Tausch gegen die Federn gibt Beuys den Vögeln elektrische Nester aus Filz, die überall eingestöpselt werden können.
JOHN CAGE


FLUXUS


1951

Wiederentdeckung von Dada: Veröffentlichung von Robert Motherwell THE DADA PAINTERS AND POETS (New York)

JOHN CAGE setzt in seiner Komposition Imaginary Landscape No.4 (wie auch in MUSIC OF CHANGES) erstmals das Radio als Musikinstrument ein. 24 Ausführende stellen nach den Anweisungen der Partitur an 12 Radios Lautstärke, Tonhöhe und Sender ein.



1952

JOHN CAGE veranstaltet am Black Mountain College die erste 'Multimedia'-Veranstaltung der Nachkriegszeit: ein unbetiteltes happeningartiges Konzert unter Einbeziehung von Klaviermusik, Textlesung, Tanz, Bildpräsentation, Film- und Diaprojektion. Aufgeführt werden u.a. Water Music, Music of Changes, 4'33«, Theater Piece #1. WATER MUSIC ist das wohl erste von John Cage als Musikperformance intendierte Werk. In diesem Stück nutzt der Pianist diverse Alltagsgegenstände wie Radio, Pfeife, Wasserbehälter oder Kartenspiel zur Bearbeitung eines Klaviers. Die Partitur des Stücks ist ein großes Plakat, auf dem - für das Publikum sicht- und nachvollziehbar - alle Einzelereignissen mit genauen Zeitangaben notiert sind (mit M.Cunningham, C.Olson, R.Rauschenberg, M.C.Richard und D. Tudor).

Marshall McLuhan veröffentlicht das Buch Die Gutenberg-Galaxie.



1956

15.04.1956
Erstes noch unbetiteltes HAPPENING von Allan Kaprow am Douglas College, New Brunswick. Die Bezeichnung taucht nur in der Beschreibung der Veranstaltung auf.



1957

George Brecht verfasst den Text CHANCE IMAGERY, in dem er die Rolle des Zufalls in Kunst und Wissenschaft der Moderne untersucht (publiziert 1966).



1957/58

Konzeption des Forschungsprojektes PROJECT IN MULTIPLE DIMENSIONS von George Brecht, Allan Kaprow und Robert Watts zu Kunst und Wissenschaft und der Entwicklung von Gattungsgrenzen überschreitenden »multi-dimensionalen Medien« (»a group of events« mit Cage, Stockhausen, Brown et al.)



1958

John Cage hält seine ersten drei Vorlesungen in Europa (CHANGES – INDETERMINACY – COMMUNICATION), Internationale Ferienkurse für Neue Musik, Darmstadt

06.12.1958
1. LITERARISCHES CABARET der Wiener Gruppe (F. Achleitner, H.C. Artmann, K. Bayer, G.Rühm, O. Wiener), Wien

Umberto Eco entwirft ein theoretisches Modell des »offenen Kunstwerks« (Das offene Kunstwerk, veröffentlicht 1962).



1958-1960

John Cage gibt Kurse über experimentelle Komposition an der New School for Social Research. Zu seinen Studenten gehören u.a. George Brecht, Al Hansen, Dick Higgins, Allan Kaprow, ab 1960 auch La Monte Young, George Maciunas und Richard Maxfield et al.



1959

15.04.1959
2. LITERARISCHES CABARET der Wiener Gruppe mit »anderen Ereignissen und Begebenheiten«, Porrhaus, Wien

04.10.1959
Ausstellung Allan Kaprow 18 HAPPENINGS IN 6 PARTS zur Eröffnung der Reuben Gallery, New York. Erste öffentliche Verwendung des Begriffs HAPPENING. Ziel ist die Teilnahme des Publikums am Geschehen unter Einbezug der Improvisation. Teilnehmer sind neben dem Publikum J. Johns, R. Rauschenberg, R. Montague, Sh. Prendergast, L. Samaras, J. Weinberger, R. Whitman, S. Francis, R. Grooms, D. Higgins, L. Johnson, A. Leslie, J. Milder, G. Segal und R. Thompson

16.10.-05.11.1959
Erste Einzelausstellung von George Brecht TOWARD EVENTS an arrangement, Reuben Gallery, New York und erste öffentliche Verwendung des Begriffs EVENT. Die von ihm selbst oder anderen Performern realisierten Stücke basieren auf »event scores«, schriftlichen Handlungsanweisungen, die an jedem Ort, zu jeder Zeit und von jeder Person interpretiert und aufgeführt werden können. Die Partitur ersetzt das realisierte Ereignis

18.12.1959
Aktion: Bazon Brock, Fritz Hundertwasser und Herbert Schult ziehen EINE ENDLOSE LINIE in einer Klasse der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg



1960
Erstmalige Verwendung des Wortes FLUXUS (lat. flux/fluere = fließend) als Titel für eine Zeitschrift, die George Maciunas zusammen mit Almus Salcius herausgeben will.

14.03.1960
A CONCERT OF NEW MUSIC, The Living Theatre, New York, mit Performances von A. Kaprow, G. Brecht, A. Hansen, R. Rauschenberg, R., R. Maxfield, J. Cage, Mc Dowell

August/September 1960
PERFORMANCES von R. Filiou: Performance Piece for a Lonely Person in a Public Place und L’Immortelle Mort du Monde (Auto-Theater), Paris

DE-COLL/AGE / AKTION von W. Vostell: Plakat Phasen,, Plaza de Cataluña, Barcelona



1961

März-Juli 1961

Literatur-, Musik- und Filmveranstaltungen / Kunstausstellungen in der AG GALLERY von G. Maciunas / A. Salcius und im Studio von YOKO ONO, New York. Teilnehmer: R. Marxfield, J.Cage, D. Higgins, J.MacLow, E.Brown, J.Mc Dowell. D.Johnson, B.Morris, P. Davis, J.Fischer, T.Ichiyanagi, J. Byrd, S. Peterson, W. Maas, G. Maciunas) sowie Performances von S Morris, d. Lindberg, P. Corner, L.M.Young, T. Ichiyanagi, H. Flynt, J. Byrd, J. Mac Low, R. Maxfield et al

Henry Flynt verfasst das Manifest CONCEPT ART (veröffentlicht in AN ANTHOLOGY, 1963), in dem er die Konzeptkunst als die Kunst proklamiert, deren Material Konzept und Sprache sind

La Monte Young stellt das Material für die Publikation AN ANTHOLOGY zusammen, das erste und bis dato umfangreichste Manifest zu Fluxus und den 'neuen Künsten', das erst 1963 in 1. Auflage herausgegeben wird (Design G. Maciunas). Beiträge von G.Brecht, Y.Ono, Jo.Cage, H.Flynt, D.Higgins, L.M.Young, D.Rot, E.Williams, N.J.Paik (1. Auflage Hg. La Monte Young, Jackson Mac Low, New York 1963 / 2. Auflage Hg. Heiner Friedrich, München 1970)

Mai - Juli 1961
Köln, Wuppertal und Aachen sind wichtige Orte für die rheinische Avantgardeszene. Performances u.a. von B. Patterson, W. Vostell, B. Brock

Herbst 1961
Maciunas reist als Designer für die US Army nach WIESBADEN. Dort Kontaktaufnahme zur rheinischen und Berliner Szene experimenteller Musik und Kunst, insbesondere zu Nam June Paik, Emmett Williams, Ben Patterson, Wolf Vostell, Karlheinz Stockhausen, Joseph Beuys u.a.



1962
Maciunas initiiert und organisiert große FLUXUS-FESTIVALS, die 1962 in Wiesbaden, dann in Kopenhagen, Paris, Düsseldorf, Amsterdam stattfinden. Ab Sommer 1962 Veröffentlichung des Magazins Fluxus (im Herbst 1962 umbenannt in FLUXUS), seitdem Etablierung des Begriffes für alle weiteren Aktivitäten der Künstler.

Juni 1962
Erste Ausgabe der Zeitschrift décoll | age. Bulletin aktueller Ideen (Hg. Wolf Vostell) erscheint

09.0 6.1962
NEO-DADA IN NEW YORK. Vortrag von G. Maciunas anlässlich der Veranstaltung ‘Kleines Sommerfests - Après John Cage’ in der Galerie Parnass, Wuppertal. Aufführung von Stücken von Patterson, Riley, Higgins und Curtis

01.-23.09.1962
FLUXUS. Internationale Festspiele Neuester Musik, Hörsaal Städtisches Museum Wiesbaden. 14 Konzerte von Higgins, Knowles, Paik, Williams, Köpcke, Vostell, Filiou, Maciunas. Diesem ersten mehrtägigen Festival unter dem Titel Fluxus folgen zahlreiche Konzerte in Kopenhagen, Paris, Düsseldorf, Amsterdam.

23.-28.11.1962

FESTUM FLUXORUM. Fluxus. Musik og Anti Musik. Det Instrumentale Theater. 6 Konzerte in der Nikolai Kirke Kopenhagen. Teilnehmer: Williams, M.Low, Vostell, Higgins, Knowles, Maciunas, Paik, Koepcke, Filliou. Veröffentlichung von Maciunas’Neo-Dada in Music, Theater, Poetry, Art und Kagels Das instrumentale Theater.

03.-08.12.1962
FESTUM FLUXORUM. Poesie, Musique et Antimusique evenenementielle et conctrete. American Center, Paris. Teilnehmer: Filliou, Williams, Koepcke, Schmit, Maciunas, Higgins, Spoerri, Knowles, Vostell



1963
Veröffentlichung des FLUXUS MANIFESTs von George Maciunas in der ersten Fluxuszeitung, FLUXUS PREVIEW REVIEW. Die Fluxuszeitung V TRE (Hg. George Brecht, ab Sommer 1963 Maciunas cc V TRE) erscheint. Gründung des Verlages SOMETHING ELSE PRESS, New York durch Maciunas und Higgins (bis 1974).

02.-03.02.1963
FESTUM FLUXORUM FLUXUS. Musik und Antimusik. Das Instrumentale Theater, Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Organisatoren: Paik, Beuys und Maciunas. Teilnehmer: Patterson, Williams, Higgins, Spoerri, Schmit, Mac Low, Maciunas, Brecht, Beuys, Koepcke, Vostell, Watts, Hansen, Young et al.

27./28.02.1963
DEMONSTRATION AGAINST SERIOUS CULTURE. From culture to veramusement.
49 Bond Street, New York. Mit Henry Flynt, Tony Conrad, Jack Smith

01.-31.05.1963
YAM FESTIVAL MAYTIME, Smolin Gallery, New York, von Brecht, Watts, Knowles

16.06.1963
Bazon Brock BLOOMSDAY. Demonstration und Veröffentlichung der Bloomzeitung, Galerie Loehr, Frankfurt/Main

23.06.1963
FLUXUS FESTIVAL. Hypokriterion Theatre, Amsterdam. Teilnehmer: G. Maciunas, N.J. Paik, T. Schmith, E; Williams, R. Watts, D. Higgins, A. Knowles, D. Spoerry, G. Brecht, A. Koepke, G. Ligeti, T. Ishiyanagi, J. Mc low, B. Patterson, L.M.Young, R. Maxifield, B. Vautier, J. Cage, W. De Maria, B. Brotzmann, M.Laurens Montw e, W. de Ridder

03.09.1963
Maciunias kehrt nach New York zurück. Ende der Phase der großen gemeinsamen Fluxus-Konzerte in Europa.



1964

11.04.-23.05.1964
FLUXUS CONCERTS. Eröffnung der FLUXHALL, New York. 12 Konzerte von/mit Paik, Brecht, Williams, Shiomi, Schmit, Eisenhauer, Patterson, Higgins, Corner, Kosugi, Watts, Vautier, Knowles, La Monte Young, Kubota, Ichiyanagi, Jones, Maciunas et al.

20.07.1964
Actions, Agit-Pop, De-Collange / Agehappenings, Events, L’Autorisme, Art Total. Re-Fluxus, Festival der Neuen Kunst in Aachen, Technische Hochschule. Stücke und Aufführungen von: Brock, Andersen, Beuys, Filliou, Gosewitz, Koepcke, Schmit, Vostell, Williams.

30.08.1964
ACTION AGAINST IMPERIAL CULTURALISM. Die Demonstration von Henry Flynt und George Maciunas gegen die Aufführung von Karlheinz Stockhausens Originale anlässlich des 2nd Annual New York Avant Garde Festival am Lincoln Center New York schlägt fehl und beeinträchtigt die »Solidarität« des »Fluxuskollektivs« erheblich. Dies führt zum Bruch zwischen Maciunas und vielen bisher unter der Bezeichnung FLUXUS agierenden Künstlern.



1965

05.-06.06.1965
Joseph Beuys’ 24-STUNDEN-HAPPENING, Galerie Parnass, Wuppertal. Teilnehmer: Brock, Moorman, Paik, Rahn, Schmit, Vostell



1966
Maciunas gründet FLUXHOUSE COOPERATIVE INC. (1968 Fluxhouse Cooperative Building Project) mit der Absicht, durch den Kauf von Häusern in Soho/Manhattan Künstlern, Filmemachern und Tänzern adäquate Arbeits- und Lebensräume zur Verfügung zu stellen

Februar 1966
Dick Higgins veröffentlicht im SOMETHING ELSE NEWSLETTER Vol.1, No.1 eine Liste von Fluxus-Merkmalen - Internationalismus, Experimentalismus, Ikonoklasmus, Auflösung der Dichotomie von Kunst&Leben, Spiel und Witz, Vergänglichkeit, Einzigartigkeit und Intermedialität. Er prägt damit den Begriff INTERMEDIA für eine »zwischen den Medien« angesiedelte Kunst.

31.08.-30.09.1966
DIAS 1966 (Destruction in Arts Symposium), London, organisiert von Metzger und Sharkey, mit Beiträgen und Aktionen von Lebel, Fleischman, Matusow, Hansen, Page, Latham, Ono, Kren, Davey, Brus, Mühl, Nitsch, Vostell, Weibel, Hansen, Ortiz et al.



1967

Beuys gründet die DEUTSCHE STUDENTENPARTEI als Reaktion auf den Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der bei einer Protestkundgebung gegen den Besuch des Schahs in Berlin erschossen wurde. Ziel der Partei ist die Autonomie der Hochschule und ein demokratisches Aufnahmeverfahren der Studenten ohne Prüfung eingereichter Mappen.



1968

Umbenennung der Deutschen Studentenpartei in FLUXUS ZONE WEST.

16.02.-12.04.1968

INTERMEDIA '68, State University Stoney Brook, New York. Mit Werken von K. Dewey, C. Schneeman, A. Tambellini, L. Levine, Usco, Higgins.

07.06.1968
KUNST UND REVOLUTION. Simultane Aktionen von Brus, Mühl, Weibel, Wiener, Kaltenbeck an der Universität Wien



1970
06.11.1970-06.01.1971
HAPPENING & FLUXUS. Materialien aus dem Archiv Sohm. Ausstellung im Kölnischen Kunstverein.



1978

09.05.1978
Maciunas stirbt in Boston.

13.5.1978
FLUX FUNERAL FOR GEORGE MACIUNAS. 80 Wooster Street, New York. Teilnehmer: Hendricks, Moorman, Patterson, Bourgeois, Morrow, Cooper, Frank Higgins, Geoff Hendricks, Knowles, Forbes, Kubota, Miller et al.



FLUXUS besteht weiterhin.




Zusammengestellt von Katrin Kaschadt, Oktober 2004


BLOCK BEUYS


Im Werkverzeichnis von Richard Rijnvos finden sich mehrfach Arbeiten, die die Grenze zu anderen Künsten überschreiten; unter anderem hat er an dem Film Atlantique und an der Dia-Tonband-Produktion for Samuel Beckett mit dem Künstler Frank Zweers mitgewirkt. Er hat auch eine eigene Fassung von Samuel Becketts Hörspiel Rough for radio hergestellt, in der er die Stimme von John Cage verwendete. Es liegt ihm also nicht fern, das zu schreiben, was man im deutschen Sprachgebiet seit Kurt Weill mit dem Begriff »Angewandte Musik«; bezeichnet, also Musik, deren ästhetische und stilistische Vorgaben sich an einem anderen Medium, einer anderen Kunstform als der Musik selbst orientieren

Im Fall der Komposition BLOCK BEUYS, entstanden 1995-2000 und aufgeführt am 7. März 2000, handelt es sich allerdings nicht um angewandte, sondern um autonome Musik, also Musik, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Natürlich ist die Komposition von Rijnvos durch die Installation von Joseph Beuys inspiriert worden und reagiert auch sehr präzise auf diese, aber gerade weil der Titel so offensichtlich die visuelle Vorlage der Musik präsentiert, muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Richard Rijnvos’ Komposition Block Beuys nicht gleichsam um eine 1:1-Umsetzung des Werks von Joseph Beuys handelt. Rijnvos’ Musik ist nicht deskriptiv; sie antwortet vielmehr auf die von Beuys mit Objekten bestückten Räume, indem sie ihrerseits virtuelle Räume konstruiert; und dies tut sie mittels einer musikgeschichtlich ziemlich präzis lokalisierbaren Anknüpfung an Vorbilder, unter anderem an die Musik von John Cage, wie gleich noch weiter ausgeführt werden soll.

Wenn man sagt, Musik sei eine Zeitkunst, dann ist diese Aussage seit über dreißig Jahren nur mehr bedingt richtig. Natürlich kann sich Musik nur innerhalb der Zeit abspielen und wahrgenommen werden. Das bedeutet: in der Musik gibt es Prioritätsverhältnisse. Wenn ich Prioritäten setze, dann möchte ich, dass eine bestimmte Sache zuerst geschieht und andere erst später; und ich möchte das, weil nur die eine Sache, welche die erste werden soll, am wichtigsten erscheint. In der Musik nennt man eine solche Sache häufig ein ›Thema‹, also ein Gesetztes, eine Setzung. Nach dem Thema gibt es dann vielleicht eine ›Ableitung‹; das zuerst kommende Thema und das als zweites kommende werden auch ›Hauptsatz‹ und ›Nebensatz‹ genannt; die musikalische Terminologie ist voll von solchen Spiegelungen von Prioritätsverhältnissen.

Ein Komponist, der von Anfang an auf andere Weise an die Musik heranging und auf den sich Rijnvos in seiner ArbeitBlock Beuys mehrfach bezieht, war John Cage. Nachdem bereits stellenweise bei Claude Debussy und vor allem bei Erik Satie, auf den Cage sich nachdrücklich berief, eine andere Konzeption von musikalischer Zeit aufgeschienen war, war Cage dejernige Komponist, der hartnäckig und mit aller Konsequenz das Ziel verfolgte, eine Musik zu schreiben, die ohne Prioritätsverhältnisse auskommen würde, eine Musik, in der das aufgelöst wäre, was man in der Musikwissenschaft kompositorischen Zusammenhang nennt. Er erreichte schließlich auch sein Ziel in den Jahren um 1950, indem er – sehr verkürzt gesprochen - alles, was an Sprachähnlichkeit in der Musik liegt, abschaffte, d. h. vor allem jegliche Figurbildung und jegliche Formen von Setzung, Ableitung oder Schlußbildung, von denen eben die Rede war. Deshalb hat man einerseits bei Cages Musik so oft das Gefühl von Zeitlosigkeit, andererseits ist es möglich, diese Stücke wie einen musikalischen Raum zu hören, in dem man sich nach Belieben von einem Gegenstand zum anderen bewegen kann. Letzteres gilt natürlich besonders, wenn man diejenigen Stücke gut kennt, in denen die Musiker die zeitliche Anordnung des musikalischen Materials von Aufführung zu Aufführung selbst verändern können. Man erkennt dann ein Stück wieder, obwohl man nicht seinen zeitlichen Ablauf kennt.

Eines der kompositorischen Mittel, das John Cage häufig gebrauchte und an das Richard Rijnvos inBlock Beuys anknüpft, ist das Mittel der Zeitklammer. Bevor aber die Funktionsweise solcher Zeitklammern erläutert werden soll, werfen wir erst einen Blick auf die Gesamtstruktur von Rijnvos’ Block Beuys:

Die Komposition umfasst vier Teile, die auch einzeln aufgefuehrt werden koennen. Diese Teile tragen die Titel Block Beuys - Raum 1, Block Beuys - Raum 2, Block Beuys - Raum 3 und Block Beuys - Raum 4 bis 7. Damit haben wir eine erste Analogie zur Darmstaedter Sammlung von Beuys, die aus sieben Räumen besteht, wobei die Räume 4 bis 7 je eine offene Schmalseite haben, so daß sie durch einen Gang miteinander verbunden sind. Für alle Teile der Komposition ist die Gleichzeitigkeit mehrerer musikalischer Ebenen oder Schichten charakteristisch. Eine dieser Schichten hebt sich immer dadurch von den anderen ab, dass sie permanent als ein Kontinuum gespielt wird - auch wenn sie nicht immer permanent zu hören ist -, während die anderen Schichten in sich bewegter und deutlich in verschiedene Abschnitte unterteilt sind. Das Kontinuum, wie es der Komponist selbst übrigens auch bezeichnet, wird in jedem der vier Teile klanglich anders realisiert: im ersten Teil hören wir ein Tonband mit Klavierklängen, bei denen die Saiten des Klaviers mit Schnüren angestrichen werden; im zweiten Teil wird ein Positiv benutzt - das ist eine Orgel mit nur einem Manual und ohne Pedal -, auf dessen Tasten kleine Gewichte gelegt werden. In Block Beuys - Raum 3 ist ein Instrument namens Aquaphon fuer das Kontinuum zuständig; dabei werden mit einem Bogen angestrichene Metallstäbe in Wasser getaucht. Im letzten Teil, Block Beuys - Raum 4 bis 7 schließlich, spielen zwei Schlagzeuger stets die gleiche rhythmische Sequenz, aber in ständig wechselnder Klangfarbe.

Da das Kontinuum in Raum 1 durch ein Tonband repräsentiert wird, das von Anfang bis Ende ohne Unterbrechung durchläuft, sind die zeitlichen Verhältnisse in dieser musikalischen Schicht unveränderbar. In den live gespielten Teilen jedoch werden die eben erwähnten Zeitklammern verwendet. Die Spieler müssen innerhalb eines bestimmten Zeitraums mit einem bestimmten Abschnitt beginnen und diesen auch innerhalb eines bestimmten zweiten Zeitraums beenden. Technische Voraussetzung für diese Art kompositorischer Zeitgestaltung ist die Verwendung von Stoppuhren, die jeder Spieler bei sich hat.

So schalten die Spieler am Beginn von Raum 1 mit dem dritten Ton des Tonbands ihre Stoppuhren ein, und die Streicher können zwischen 00'05" und 01'05" mit ihrem Abschnitt beginnen; die Pianisten und Schlagzeuger sind noch etwas freier in ihrer Wahl ›ihres‹ Zeitraums. Das kompositorische Mittel der Zeitklammer ist also dazu geeignet, innerhalb einer Musik, in der die zeitlichen Beziehungen (die Prioritätsverhältnisse) zwar nicht abgeschafft, aber doch aufgeweicht sind, eine Kontrollinstanz für die Dichte eines Abschnitts und natürlich auch für seine Harmonik zu liefern.

Rijnvos entschied sich für ein Komponieren mit mehreren gleichzeitig ablaufenden musikalischen Schichten, um den Gegensatz zwischen den vorgegebenen Räumen der Installation mit ihren Decken, Wänden und Fußböden und den von Beuys in diese Räume platzierten beweglichen Objekten musikalisch brauchbar zu machen. Das Kontinuum repräsentiert dabei die gebaute Struktur der Räume. Und darin liegt eine zweite Analogie zwischen Rijnvos’ und Beuys’ Werken; denn entsprechend der Tatsache, dass die gebaute Struktur von Raeumen desto weniger sichtbar wird, je mehr man hineinstellt, kann man das Kontinuum in Rijnvos’ Block Beuys halt mehr oder weniger gut hören, weil es von anderen Ereignissen überlagert wird.

Der Gegensatz zwischen Kontinuum und anderen Schichten bei Rijnvos spiegelt übrigens auch die Verhältnisse zwischen umbautem Raum und Anzahl der in diesem Raum versammelten Objekte bei Beuys: Zum Beispiel präsentiert der erste Raum, der mit 125 qm der bei weitem größte ist, nur 5 Objekte, der zweite hingegen, bei nur 96 qm, 33 Objekte. Diese Dichteproportionen spiegeln sich in Rijnvos’ Komposition darin, dass der erste Teil viel großzügiger mit der musikalischen Zeit verfährt und ruhiger ist als der zweite, in dem fast ohne Pause irgendetwas geschieht und die Ereignisse sich schnell abwechseln. In Raum 4 bis 7 wird auf eine besonders strikte Art auf die Beuysschen Objekte reagiert, indem nämlich der Komponist seine Abschnitte als ›Vitrinen‹ bezeichnet - analog den unter Glas ausgestellten Objekten in Beuys’ Räumen 4 bis 7 - und dem Kontinuum der beiden Schlagzeuger und einer weiteren Schicht eine dritte hinzufügt, die aus sehr kurzen Tonhöhen besteht. Die Anzahl der von Beuys innerhalb einer - realen - Vitrine zusammengestellten Objekte entspricht der Anzahl der von Rijnvos komponierten kurzen musikalischen Einheiten. Diese Splitter sind in der Lautstärke deutlich gegenüber den anderen Schichten herausgehoben.

Damit sind wir schon sehr nahe an der letzten und fundamentalen Analogie, die zwischen Rijnvos und Beuys besteht: Richard Rijnvos setzte bei den Grunderfahrungen von Bildender Kunst und Musik an, der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit. Er hat die Grundflächen der sieben Räume von Beuys’ Installation gemessen und die Proportionsreihe, die sich aus den Quadratmeterangaben ergibt, umgedeutet in eine Proportionsreihe von Dauern, also von Minuten und Sekunden. Diese Proportionsreihe bestimmte von Beginn der kompositorischen Arbeit an die Länge der vier Teile des Werkes. So ist zum Beispiel das Verhältnis der Grundflächen des ersten und zweiten Raums, also 125 geteilt durch 96, bis auf ein Hundertstel genau auch das Verhältnis der Dauern von Rijnvos’ Raum 1 und Raum 2: 24'20'' zu 18'30''. Nur da Musik, wie Rijnvos sie schreibt, die zeitliche Gerichtetheit der alten Musiksprache nicht besitzt und durch eine Quasi-Räumlichkeit ersetzt hat, ist sie in der Lage, sogar in ihrer Grundstruktur sich nach einem anderen, bereits existierenden Kunstwerk zu richten, ohne ihren Autonomieanspruch aufzugeben.

Autor: Martin Erdmann. In: Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Reihe XX. Jahrhundert 1